In artenreichen, wüchsigen Buchenwäldern ist Verbiss durch wildlebende Huftiere oft weniger augenfällig als in Gebirgswäldern. Verbiss kann aber auch dort zu Zuwachsverlusten und mehrjährigen Verzögerungen bei der Reaktion nach Verbiss führen. Das hat Auswirkungen auf die Artenvielfalt in der Baumverjüngung.
Der Verbiss durch wildlebende Huftiere wie Reh, Gämse und Rothirsch ist in zweierlei Hinsicht selektiv. Erstens werden einzelne Baumarten bevorzugt gefressen und zweitens werden die bestwüchsigen, die vitalsten Individuen einer Baumart an ihrem Endtrieb verbissen. Dies kann zu Verschiebungen im Zuwachsverhältnis zwischen den Baumarten führen, was längerfristig die Baumartenzusammensetzung eines Waldbestandes beeinflusst.
In 133 systematisch angeordneten Probeflächen im Forstrevier Kirchberg erfolgte im Herbst 2022 eine Verbisseinflussinventur. Die dem Probeflächenzentrum nächstgelegenen zwei Bäumchen je Baumart und Höhenklasse wurden vermessen (sogenannte «k-Baum-Methode»). Von jedem Bäumchen wurde die Art notiert, die Baumlänge und die Höhenzuwächse in den Jahren 2022 und 2021 gemessen. Zudem wurde die Verbissstärke während der Vegetationszeit 2022 (hier als Sommerverbiss bezeichnet) und im Winter 2021/22 am verholzten Endtrieb 2021 beurteilt. Weiter wurde die Schadenshäufigkeit entlang der Stammachse gezählt.
Insgesamt wurden auf den Probeflächen 21 Baumarten gefunden. Alle Baumarten, die gemäss Tree-app für diese Waldstandorte für die Zukunft empfohlen oder bedingt empfohlen werden, kamen vor. Bergahorn, Esche und Tanne zählten zu den am häufigsten gefundenen Baumarten. Sie wurden sogar in mehr Probeflächen gefunden als die Buche. Allerdings kam die Buche in allen Höhenklassen häufig vor, während Bergahorn, Esche und Tanne in den grösseren Höhenklassen deutlich seltener waren. Eichen, Eiben, Feldahorn und Spitzahorn fehlten komplett in den grösseren Höhenklassen.
Das Bestockungsziel von 3’000 Bäumchen pro Hektar war in 99% aller Probeflächen mit einer mittleren Gesamtdichte von rund 10'000 Bäumchen/ha erfüllt. Das ist Anbetracht der Tatsache, dass von den 133 Probeflächen nur gerade 5 im Jungwuchs und Dickungsstadium waren und die mittlere Beschattung dieser Buchenwälder 81±13% betrug, doch ein grosser Anteil.
Von den häufigsten Baumarten waren 31% der zum Probeflächenzentrum nächsten Kirschen verbissen, hingegen 16% der Tannen, 12% der Eschen und 11% der Bergahorne und nur 8% der Buche, aber keine der nächsten Fichten. Dies scheint auf den ersten Blick kein hoher Verbissanteil zu sein.
Besonders häufig war im Forstrevier Kirchberg der Verbiss bei den selteneren Baumarten, von denen man annimmt, dass sie besser mit den veränderten klimatischen Bedingungen zurechtkommen. Bemerkenswert ist, dass der Nussbaum zu den am häufigsten und auch am stärksten verbissenen Arten gehörte. Der Nussbaum zählt sonst eher zu den «verbiss unempfindlichen» Arten.
Winterverbiss war häufiger als Sommerverbiss, auch bei allen Laubbaumarten. Bei einigen Arten war leichter Winterverbiss häufiger als starker Winterverbiss, darunter Eibe, Buche, Bergahorn und Kirsche. Im Gegensatz dazu war starker Winterverbiss häufiger bei Tanne, Esche, Ulme, Vogelbeeren, Eichen, Nussbaum, Feld- und Spitzahorn, was den Verbisseinfluss erhöht. Rund 10-15% der Ulmen, Mehlbeeren und Eichen waren zudem in beiden Jahreszeiten verbissen.
Von den häufigsten Baumarten wuchs die Kirsche am besten, gefolgt von Esche, Tanne und Buche. Das kleinste Höhenwachstum hatten Bergahorne und Fichten. Das Reststück des Endtriebes 2021 war nach leichtem Verbiss allerdings immer noch länger als der Endtrieb 2021 der unverbissenen Bäumchen. Dies deutet auf selektiven Verbiss der bestwachsenden Bäumchen hin und erhöht die Durchwuchszeit (Zeitdauer, welche die Bäumchen brauchen, um von 10 bis 130 cm zu wachsen). Ab einer Höhe von 130 cm geht man davon aus, dass die Bäumchen nicht mehr verbissen werden.
Wird das Wachstum je Probefläche und Höhenklasse im Verhältnis zur Buche verglichen, so war das Reststück nach leichtem Endtriebverbiss von Tanne, Esche, Bergahorn und Kirsche grösser als der Zuwachs der unverbissenen Buchen. Das bedeutet, dass diese Arten besser wachsen würden als die Buche, wenn sie nicht verbissen würden. Sie verlieren jedoch einen Teil dieses grösseren Höhenzuwachses. Dies, weil der neue Trieb, der als Reaktion auf den Verbiss gebildet wird, in den allermeisten Fällen weiter unten aus dem Reststück herauswächst und nicht an der Spitze des verbissenen Triebes. Somit verschiebt Verbiss das Zuwachsverhältnis zu Gunsten der Buche.
Starker Winterverbiss verringerte das Höhenwachstum bei allen häufigen Arten (ausser der Fichte) signifikant. Damit wird das Zuwachspotential all dieser Arten durch Verbiss erheblich geschmälert.
Die meisten Schäden entlang der Stammachse hatten Bergahorn, gefolgt von Eschen und Kirschen. Tannen hatten etwas weniger Schäden und Buchen nochmals signifikant weniger. Fichte hatte mit Abstand am wenigsten Schäden entlang der Stammachse. Sie gilt als verbissunempfindlich, ist aber vor dem Hintergrund des Klimawandels kein Baum der Zukunft.
Je grösser die Baumhöhe, desto höher war die Schadenshäufigkeit. Bergahorne, Kirsche und Eschen grösser als 50 cm hatten fast ausnahmslos mehrere Schäden. Es ist anzumerken, dass es auch viele sehr kleine Bergahorne und Eschen gab mit bereits mehrmaligen Schäden entlang der Stammachse. Hingegen gab es viele grössere Buchen und Fichten ohne Schäden.
Frühere Schäden entlang der Stammachse verringerten den Höhenzuwachs signifikant. Je öfter also ein Bäumchen verbissen und/oder beschädigt wurde in den letzten Jahren, desto schlechter ist es gewachsen, auch wenn es in den vergangenen Jahren nicht verbissen war Der Verbiss hat also eine mehrjährige Auswirkung auf das Höhenwachstum in diesen Wäldern.
Nach starkem Verbiss im Winter 2021/2022 hatten 40% der Tannen, 28% der Kirschen, 20% der Buchen, 18% der Eschen und 16% der Bergahorne am Ende der nächsten Vegetationsperiode (Herbst 2022) noch keinen neuen Endtrieb. D.h. die Reaktion nach Verbiss war um mindestens ein Jahr verzögert.
Es reagierten mehr Tännchen nach leichtem, als nach starkem Winterverbiss. Alle im Winter leicht verbissenen Eschen und Kirschen bildeten 2022 einen neuen Trieb. Überraschenderweise reagierten hingegen deutlich weniger Buchen und Bergahorne nach leichtem als nach starkem Winterverbiss (23 bis 36% ohne Endtrieb nach leichtem Verbiss).
Auch nach leichtem Sommerverbiss trieben die allermeisten Buchen (90%) nicht neu aus. Beim Bergahorn konnten immerhin 40% bereits einen neuen Endtrieb bilden, 50% der Kirschen und 67% der Eschen.
Drei von vier Tannen, welche im Jahre 2021 keinen Endtrieb infolge eines früheren Verbisses (oder eines sonstigen Schadens) hatten, wiesen bis zum Ende der Vegetationsperiode 2022 noch immer keinen neuen Endtrieb auf. Dies bedeutet, dass sie eine um mindestens zwei Jahre verzögerte Reaktion haben werden.
Um die Auswirkungen des Verbisses abschätzen zu können, ist es daher wichtig, die Verzögerungen bei der Reaktion nach dem Verbiss zu bewerten. Wird der Flächenanteil mit verbissenen Tannen und derjenige mit Tannen ohne Endtrieb addiert, so steht auf jeder 4. Probefläche eine nächste Tanne die mindestens ein (Winterverbiss mit Reaktion im darauffolgenden Jahr) bis drei Zuwächse (früherer Verbiss ohne Reaktion) infolge des Verbisses verloren hat. Weiter zu berücksichtigen ist, dass auf den restlichen 61% der Flächen die Tannen signifikant schlechter wachsen infolge von früherem Verbiss. Daraus wird klar, dass der Verbiss einen erheblichen Einfluss auf das Aufwachsen der Tannenverjüngung in diesen Wäldern hat. Ähnliches, wenn auch weniger akzentuiert (da weniger oft eine zeitliche Verzögerung der Reaktion festgestellt wurde), triff auch auf Bergahorn und Esche zu.
Im Allgemeinen war das Wachstum im Jahr 2021 eher gering und noch kleiner im Jahr 2022. Gründe dafür sind die relativ dunklen Bestände und der heisse Sommer im 2022. Der Höhenzuwachs war bei allen Arten deutlich grösser mit mehr Licht. Bei grösserer Lichtverfügbarkeit werden in der Regel mehr Johannistriebe und mehr Knospen gebildet und damit können die Bäumchen effizienter und schneller auf den Verbiss reagieren.
In weniger beschatteten Beständen fanden sich allerdings tendenziell mehr leichten und insbesondere mehr starken Endtriebverbiss an Esche und Bergahorn. Und: Je offener die Probeflächen waren, desto mehr verdämmende Bodenvegetation kommt in diesen Buchenwäldern auf. Die zwei Probeflächen ohne Verjüngung hatten beide viele Brombeeren. Beim Auflichten bzw. Holzen muss also die Konkurrenzvegetation mitberücksichtigt werden.
Der Verbiss durch wildlebende Huftiere führt in den untersuchten Buchenwäldern zu reduziertem Höhenwachstum nicht nur im Jahr des Verbisses, sondern über mehrere Jahre hinweg. Verbiss begünstigt die Buche gegenüber anderen, öfter gefressenen Arten. Besonders häufig war der Verbiss bei Baumarten, die mit den durch den Klimawandel verursachten wärmeren und trockeneren Bedingungen besser zurechtkommen dürften. Der Verbiss kann also die Entwicklung dieser Buchenwälder zu klimatisch angepassten Mischwäldern negativ beeinflussen.