Die sogenannte Spanische Grippe erfasste in zwei Wellen etwa zwei Millionen Menschen in der Schweiz. Im Kanton St.Gallen traten die ersten Fälle im Jahr 1918 in der zweiten Hälfte Mai auf, wie die Sanitätskommission im Jahresbericht schreibt. Es gab Übereinstimmungen mit der Influenza von 1889 bis 1890. Mit dem Bundesbeschluss vom 19. November 1918 wurden den Kantonen für Massnahmen gegen die Epidemie Bundesbeiträge von 50% zur Deckung der Kosten zugesichert. Dies betraf beispielsweise die Einrichtung und den Betrieb von Notspitälern, Anstellung von Pflegepersonal usw. Ausserdem sollten aufgrund der Schliessungen oder dem Verbot von Veranstaltungen den Unternehmen beziehungsweise sonstigen Personen Entschädigungen gezahlt werden.
In der Stadt St.Gallen wurden 20'218 Krankheitsfälle registriert, wovon 1'505 an einer Lungenentzündung erkrankten. Sie trat auf, wenn Grippeviren die Lunge schwächten und das Immunsystem schädigten. Die eingedrungenen Bakterien konnten bei schlechtem Verlauf innerhalb von ein paar Tagen zum Tod des Erkrankten führen. Die mangelnde Ernährung während der Kriegszeit (Erster Weltkrieg) und kalte Witterung konnten die Bedingungen verschlechtern. Aufgrund der Wettersituation nahm die erste Grippewelle im Sommer 1918 einen weniger folgenreichen Verlauf als jene im Herbst 1918 - die Teilnahme Vieler am Generalstreik und die Einberufung des Militärs verstärkten zusätzlich einen Anstieg der Grippefälle. Die Meldungen von erkrankten Personen gingen im Dezember 1918 zurück und im April 1919 galt die Spanische Grippe in St.Gallen als besiegt.
Der Verlauf einer erst unbekannten Krankheit
Gegen Ende 1847 und mit Beginn 1848 trat eine Grippeepidemie weltweit auf den Plan. Sie geriet allerdings wieder schnell in Vergessenheit. Überraschend tauchte die Grippe 1889 bis 1890 erneut auf und wurde als „Russische Grippe“ bezeichnet. Diese breitete sich von St.Petersburg bis nach Paris aus. Ab 1918 trat die erste Grippeepidemie des 20. Jahrhunderts auf. Sie fand ihre Anfänge in den Kasernen Amerikas bis hin zu den Schützengräben Europas. Von den Soldaten ging der Zug der Grippe schliesslich auf andere Bevölkerungsgruppen über. Weder war die Ursache noch die geeignete Bekämpfung der Seuche bekannt. Der Bakteriologe Richard Pfeiffer (1858 bis 1945) kannte das Bakterium, was Husten, Fieber und Schmerzen verursachte. Er hatte es in den 1890er Jahren fotografiert. Es hiess fortan „Pfeiffer-Bazillus“. Das Virus ist allerdings 20mal kleiner als ein Bakterium und konnte bei einem Verdacht unter dem Mikroskop nicht sichtbar gemacht werden. Das bedeutete, dass eine eindeutige Diagnose der Grippe für die Ärzte nicht möglich war. Somit kamen Gerüchte auf, dass die unbekannte Krankheit die Pest, die Cholera oder der Typhus wäre. In Russland gab es damals neben der Grippeepidemie auch die Typhusepidemie. Die russischen Ärzte konnten die Krankheiten von den Symptomen her nur schwer auseinander halten. Typhus wird von Läusen übertragen, hingegen die Grippe durch Tröpfcheninfektion, d.h. von Mensch zu Mensch sich überträgt.
Die Spanische Grippe kam nicht in einem Mal sondern wellenförmig. Die erste, mildere Grippewelle ging im Frühjahr beziehungsweise Frühsommer 1918 durch Europa und die USA. Dabei starben verhältnismässig wenig Menschen. Sie wurde daher als harmloser eingestuft als die Grippeepidemie von 1889 bis 1890. Nach der Sommergrippe setzte die zweite Welle im Spätsommer beziehungsweise Herbst ein und endete im November 1918. Die Schweizer Bundesbehörden setzten ab 15. Oktober 1918 auf eine obligatorische Anzeigepflicht der Ärzte und neben der Meldepflicht setzte das Schweizerische Gesundheitsamt auf weitere Schutzvorkehrungen wie Versammlungsverbot, Tanzanlässe oder Schliessung von Schulen, Kinos und Märkten. Mit solchen Massnahmen sollten Menschenansammlungen vermieden und damit eine Eindämmung der Seuche erzielt werden. Mit dem Jahreswechsel 1918/1919 kam es erneut zu einer hohen Sterberate. Mancherorts auf dem Globus erfolgte eine vierte Welle im Jahr 1920.
Behördliche Massnahmen
Im Kanton St.Gallen traten die ersten Grippefälle in der zweiten Maihälfte 1918 auf. Entsprechende Massnahmen gegen die Epidemie zu erlassen, war von Anfang an Angelegenheit der Kantone, welche im Austausch mit dem Schweizerischen Gesundheitsamt standen. Allerdings wurden innerhalb des Kantons St.Gallen keine einheitlichen Vorschriften verhängt, sondern es war den einzelnen Gemeindeinstanzen überlassen, wann sie Verordnungen zur Eindämmung der Seuche für angemessen hielten. Hingegen reichte die Sanitätskommission des Kantons dem Regierungsrat im Jahr 1918 Vorschläge wie den Erlass eines Tanzverbots sowie das Verschieben der Grossratssession und von Gemeindeversammlungen ein. Des Weiteren sollten Jahrmärkte aufgehoben werden. In Bezug auf Viehmärkte sollte kein vollständiges Verbot erfolgen, da mit zu hohen wirtschaftlichen Einbussen zu rechnen war.
Im Juli 1918 kam es zu einem ersten Todesfall in der Stadt St.Gallen. Es handelte sich um einen Mann aus München, der nach einer Lungenentzündung in einer Privatklinik in St.Gallen verstarb. Danach häuften sich die Fälle und nach 483 gemeldeten Fällen Ende Juli 1918 setzten erste Massnahmen ein. Die Räume zur Hospitalisierung der Erkrankten wurden ausgedehnt, denn der Platz im Kantonsspital St.Gallen war nicht ausreichend. So wurden zusätzliche Notspitäler bereitgestellt. Auf diese Weise konnte die Kaserne in St.Gallen mit 600 Betten den grössten Platz für Grippepatienten aus Zivilbevölkerung und Militär zur Verfügung stellen. Zusätzlich wurde für genügend Pflegepersonal und genügend Medikamente sowie Desinfektionsmaterial gesorgt.
An den Stadtrat stellte die Gesundheitskommission St.Gallen Anträge betreffend nasser Reinigung der Strassen und das trockene Kehren der Strassen zu unterlassen – was allerdings laut Jahresbericht der Sanitätskommission kaum umgesetzt wurde. Die Trambahnunternehmen erhielten die Aufforderung die Wagen regelmässig zu desinfizierten. Die Hotels und Wirtshäuser sollten das Geschirr gründlich reinigen, und Wäschereien sollten die Wäsche aus „Grippehäusern“ separat kennzeichnen, um ihr Personal auf die besondere Behandlung hinzuweisen. Neben dem genannten Verbot von Ansammlungen grösserer Menschenmengen (zum Beispiel auf dem Jahrmarkt) wurden auch Gottesdienste gekürzt beziehungsweise auch das Leichenmahl an Beerdigungen untersagt, insbesondere bei an Grippe verstorbenen Personen.
Neben der praktischen Umsetzung wurden zusätzlich Ende Juli 1918 vom Bezirksarzt und der Gesundheitskommission St.Gallen in den Tageszeitungen die Massnahmen erläutert und Ratschläge gegen die Ansteckung publiziert. Gleichzeitig wurden Gerüchte widerlegt, welche besagten, dass die Pest Schuld an Lungenentzündungen von verstorbenen Personen sei. Anfang November 1918 wurden „Grippeplakate“ erstellt und in der Stadt sowie in den Gemeinden des Bezirks St.Gallen angeschlagen. Der Grund war ein drittes Hoch mit 583 gemeldeten Grippefällen. Diese standen im Zusammenhang anlässlich des Generalstreiks in St.Gallen einberufenen Militär.
Die Präventionsmassnahmen beeinflussten auch den Schulbetrieb. Die kantonalen und städtischen Schulen in der Stadt St.Gallen legten zusammen mit dem Bezirksarzt die Dauer der „Grippeferien“ fest, um eine Ausdehnung der Erkrankungen bei den Schülern zu verhindern. Die Sommerferien wurden bis Mitte September verlängert. Nach kurzer Öffnung wurden die Schulen von 10. Oktober bis 8. November 1918 erneut geschlossen, da sich zu viele Schüler krank meldeten. Die Lehrer führten Statistik über die Neuerkrankten. Sie geben einen Überblick über die Situation in der jeweiligen Schule. Zur Vorbeugung wurden auf manche Schulanlässe verzichtet. Das Erziehungsdepartement schreibt in seinem Jahresbericht über die
Kantonsschule in St.Gallen, dass Übungen des Kadettenkorps nach den Sommerferien eingestellt wurden. Wegen des Versammlungsverbotes fand das Kantonsschulkonzert ebenfalls nicht statt, das jeweils zu Ehren des Kantonsrates durchgeführt worden war.
Das „Jugendfest“ (heute Kinderfest) konnte, wie in den Kriegsjahren zuvor, nicht gefeiert werden. Die üblichen Schülervorstellungen des Stadttheaters wurden abgesagt. Als kleine Entschädigung für die Schüler wurden gelegentlich Nachmittage zu Sportzwecken freigegeben.
Findige (geschäftstüchtige) Massnahmen
Während der gesamten Zeit der Epidemie gab es diverse Versuche, die Grippe zu besiegen. Eine eigentliche Schutzimpfung wie gegen Pocken existierte nicht. Man behalf sich auch mit Ratschlägen aus der Naturheilkunde und der Volks- beziehungsweise Hausmedizin. Es wurde auf Mangelernährung, psychische Belastung oder ungenügende Hygiene hingewiesen und frische Luft oder beispielsweise das Tragen von Mundschutzmasken empfohlen, welche in der Schweiz und Frankreich nur bei Ärzten und Pflegepersonal im Gebrauch waren. Generell war es schwierig, für die Kantone und Gemeinden Pflegepersonal zu finden, da dieses bei Erkrankung, Invalidität oder Tod keine finanziellen Absicherungen erhielt. Die internationale Grippekonferenz vom 5. November 1918 in Bern legte fest, dass sich die Kantonsbehörden betreffend Pflegepersonal an das Schweizerische Rote Kreuz und seinen Vermittlungsstellen zu wenden hätten. In den beiden Jahren 1918 und 1919 kamen 750 „Rotkreuzschwestern“ zum Einsatz. Jede Zehnte verlor schweizweit ihr Leben.
Im Stadtanzeiger St.Gallen wurden am 29. Juli 1918 die Leser aufgefordert: „Haltet den Mund rein“. Eine Werbeanzeige Tage später bewarb mit dem Titel „Zur Abwehr der spanischen Grippe“ ein Produkt zur Desinfizierung von Mund- und Rachenhöhle. Es hiess Trybol-Mundwasser und Trybol-Zahnpasta, und wurde von Ärzten als das beste Gurgelwasser seit Jahrzehnten angepriesen. Selbst der elektrische Staubsauger „Condor“ sollte Bazillen entfernen und für eine gesunde sowie staubfreie Luft sorgen. Die „Spanische Influenza“ sollte auch durch Carbol-Seife oder Lysol-Seife bekämpft werden. Nach einigen ausgewählten Werbeanzeigen wurde im Stadtanzeiger St.Gallen auch über die gesonderten Öffnungszeiten der Apotheken berichtet. Die Stadtbevölkerung wurde am 4. Oktober 1918 informiert, dass an den nächsten Sonntagen auf Wunsch der Ärzte die Apotheken geöffnet seien, allerdings ohne ausgebauten Nachtdienst. Besonders makaber wirkt eine Anzeige mit dem Titel „Bei der jetzigen Grippe=Epidemie sollte niemand versäumen, sein Testament zu errichten.“ Ein Rechtsagent aus St.Gallen empfahl seine Dienste für die Erstellung des Testaments.
Fazit
Vielseitige Vorgaben aus dem Bund, dem Kanton und der Stadt befassten sich mit der Lage der Grippeepidemie. Wie es scheint, wurde oft eigenständig und punktuell entschieden, was zu tun war, um der Situation Herr zu werden. „Grippespitäler“ wurden eingerichtet oder grosszügigere Öffnungszeiten der Apotheken angeordnet. Das rasche Handeln in der Stadt St.Gallen ab Juli 1918 half sicher, dass im folgenden Jahr im April die Epidemie vollständig besiegt war und somit keine vierte Welle erfolgte. Neben den praktischen Massnahmen führte gewiss die Aufklärung des Bezirksarztes und der Gesundheitskommission St.Gallen in der Zivilbevölkerung zum Erfolg bei der Eindämmung der Krankheit. Wirtschaftliche Interessen spiegeln sich in den Zeitungen wider, indem dort Produkte angepriesen - wie Staubsauger für gesunde und staubfreie Luft - oder Ängste zusätzlich geschürt wurden, wie durch Anpreisen von Dienstleistungen für das Verfassen des eigenen Testaments.
Der Artikel „Der Spanische Tod in St.Gallen“ im St.Galler Tagblatt vom 29. Oktober 2018 liefert weitere Zahlen und Fakten der Krankheit im Kanton St.Gallen.
Quellen aus dem Staatsarchiv St.Gallen
A 423/1, Bezirksarzt (Physikatsbezirk) St.Gallen, Jahresberichte, 1918-1919.
KA R.130-4f-6-2.2, Kantonsschule, Kadettenwesen, Kadetten am Jugendfest St.Gallen, ca. 1914.
ZA 017, Erziehungsdepartement St.Gallen, Auszug aus dem Amtsberichte des Regierungsrats an den Grossen Rat des Kantons St.Gallen über das Jahr 1918, Buchdruckerei Ostschweiz, St.Gallen, 1919, S. 32.
ZA 039, Sanitätskommission St.Gallen, Jahresbericht über die Verwaltung des Medizinalwesens und über die öffentliche Gesundheitspflege des Kantons St.Gallen im Jahre 1918, Buchdruckerei Otto Lütolf & Co., St.Gallen, 1920, S. 11f., S. 43f., S. 46-48, S. 50.
o.V.: Zur Pflege der Grippekranken, in: St.Galler Tagblatt, 78 Jg., Nr. 233, 04.10.1918.
o.V.: Rotes Kreuz., in: St.Galler Tagblatt, 78 Jg., Nr. 280, 02.12.1918.
o.V.: Zur Rekonvaleszenz!, in: St.Galler Tagblatt, 78 Jg., Nr. 285, 07.12.1918.
o.V.: Massnahmen gegen die Grippe, in: Stadtanzeiger St.Gallen, 37 Jg., Nr. 175, 29.07.1918.
o.V.: Zur Abwehr der spanischen Grippe, in: Stadtanzeiger St.Gallen, 37 Jg., Nr. 181, 05.08.1918.
o.V.: Spanische Grippe!, in: Stadtanzeiger St.Gallen, 37 Jg., Nr. 187, 12.08.1918.
o.V.: Stadt und Umgebung. Grippe-Epidemie und Apothekenbetrieb, in: Stadtanzeiger St.Gallen, 37 Jg., Nr. 233, 04.10.1918.
o.V.: Spanische Influenza, in: Stadtanzeiger St.Gallen, 37 Jg., Nr. 247, 21.10.1918.
Ochsner, G.: Bei der jetzigen Grippe-Epidemie sollte niemand versäumen, sein Testament zu errichten, in: Stadtanzeiger St.Gallen, 37 Jg., Nr. 249, 23.10.1918.
Weitere Quellen und Literatur
Osterwalder, Josef: Zwischen Hippokrates und Tarmed. Sieben Generationen lokaler Medizingeschichte im Ärzteverein der Stadt St.Gallen 1832-2007, VGS Verlagsgemeinschaft, St.Gallen, 2008, S. 95.
Salfellner, Harald: Die Spanische Grippe. Eine Geschichte der Pandemie von 1918, Vitalis, Prag, 2018, S. 8, S. 24f., S. 29, S. 31, S. 37f., S. 73.
Sandoz, Yves: Rotes Kreuz. Das Schweizerische Rote Kreuz, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 27.06.2016. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D25812.php [Stand: 04.07.2018].
Sonderegger, Christian: Grippe, in: Historisches Lexikon der Schweiz, 21.12.2017. http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D22714.php [Stand: 09.05.2018].
Spinney, Laura: 1918 - Die Welt im Fieber. Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte, Carl Hanser Verlag, München, 2018, S. 81-83.
Tscherrig, Andreas: Krankenbesuche verboten! Die Spanische Grippe 1918/19 und die kantonalen Sanitätsbehörden in Basel-Landschaft und Basel-Stadt, Verlag Basel-Landschaft, Liestal, 2016, S. 102f., S. 105, S. 107.
Vasold, Manfred: Die Spanische Grippe. Die Seuche und der Erste Weltkrieg, Primus Verlag, Band 21, Darmstadt, 2009 (Reihe: Geschichte erzählt), S. 27f.
Witte, Wilfried: Tollkirschen und Quarantäne. Die Geschichte der Spanischen Grippe, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2008, S. 28f.
Christine Stoy, Staatsarchiv St.Gallen
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