Im Kanton St.Gallen ist der 1. Mai kein offizieller Feiertag – gefeiert wird er trotzdem. Und das schon seit über 100 Jahren, wie Dokumente aus dem Bestand der Gewerkschaft Unia zeigen. Es handelt sich dabei um Publikationen der damals noch jungen Sozialdemokratischen Partei der Stadt St.Gallen und Umgebung, die 1905 und 1906 gemeinsam mit den damaligen Gewerkschaften (Arbeiterunion und Arbeiterbund) zum 1.Mai herausgegeben wurden. Beide Ausgaben beginnen unter dem Zeitungskopf jeweils mit einem Gedicht, das sowohl den Frühling feiert, als auch den Kampf der Arbeiter um ihre Rechte befeuert.
Die letzte Strophe des Gedichts in "Der Vorbote" (1905) lautet:
Die Freiheit hält den Maienritt ...
Wir folgen ihren Bahnen.
Der Anger dröhnt. Wir halten Schritt
Und schwenken hoch die Fahnen.
Von Stadt zu Stadt, durch Wald und Feld,
Zieh'n wir in stolzen Reihen
Am Feiertag der Arbeitswelt,
Am ersten Tag im Maien.
(Ludwig Lessen)
Die Sondernummern nehmen Bezug auf den 1. Mai als Weltfeiertag und unterstützen die internationale Forderung nach dem Achtstundentag. Im "Vorbote" folgt auf der dritten Seite ein Kundgebungsaufruf für die Stadt St.Gallen mit Nennung des Treffpunkts für die Formierung des Demonstrationszugs, die bereits festgelegte Zugsordnung sowie eine detaillierte Marschroute. Als Redner wird "Genosse Nationalrat Greulich" aus Zürich angekündigt (Herrmann Greulich 1842-1925, erster vollamtlicher Arbeitersekretär der Schweiz von 1887-1925), sowie der "Genosse Reichtagsabgeordnete Hilden-brand" aus Stuttgart und der "Genosse Todeschini" aus Verona erwartet. Geplant sind zudem Gesangsvorträge der gewerkschaftlichen Gesangsvereine.
"In grösseren Ortschaften bestand die klassische Maifeier aus drei Teilen: einer geordneten Demonstration der Arbeiter, die in sonntäglicher Kleidung von Musik begleitet mit Transparenten, Fahnen und Tafeln mit Forderungen aufmarschierten, ferner einer Kundgebung mit politischen Reden und gelegentlich auch Resolutionen und schliesslich einem Fest in einem Lokal, auf einem Platz oder im Wald. Die Festkultur im Mai mit ihren Brauchtumselementen und Symbolen, die von der Arbeiter-schaft z.T. übernommen wurden, schaut auf eine bis ins MA [Mittelalter] zurückreichende Geschichte zurück." (Historisches Lexikon online, Autor: Bernard Degen)
In der Ostschweizerischen Arbeiterzeitung wird ausführlich Sinn und Zweck der Mai-Feier erläutert und deren internationale Ursprünge beleuchtet. Nachfolgend ein Ausschnitt von Seite 2:
Im 19. Jahrhundert betrug die Arbeitszeit für den Grossteil der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, dazu gehörten auch Kinder, 12-15 Stunden am Tag, 6 Tage in der Woche. Wie auf nebenstehendem 1. Mai-Bändel (Abzeichen, das an der Maifeier getragen wurde) ersichtlich ist, wurde der Achtstundentag bereits 1892 als Ziel der Arbeiterschaft formuliert. Es sollte allerdings noch bis zur Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre dauern, bis die Forderung in der Arbeitswelt nachhaltige Realität geworden war. Frühere Zugeständnisse an eine reduzierte Arbeitszeit, etwa in der Maschinenindustrie, waren meist von kurzer Dauer, so dass die Forderung nach einem Achtstundentag auch eines der Hauptanliegen des Landesstreiks im Jahr 1918 darstellte.
Text auf Maibändel von 1892:
Achtstunden-Bewegung
8 Stunden Arbeit
8 Stunden Musse
8 Stunden Schlaf
Die oben abgebildeten Dokumente (ausser dem Maibändel) stammen aus dem Nachlass von Jakob Jäger (1874-1959), einem langjährigen Gewerkschaftsmitglied der Gewerkschaft Bau und Holz (GBI). Jäger, von Beruf Zimmermann, dokumentierte die Entwicklung der Arbeiterbewegung und insbesondere seines eigenen Berufsstandes, die er im Buch "Geschichte der schweizerischen Zimmererbewegung" publizierte (I. Band, Herausgegeben im Auftrag des Zentralvorstandes des Zimmerleuteverbandes der Schweiz). Neben persönlichen Aufzeichnungen enthält der Nachlass Jäger einige Publikationen zur schweizerischen und internationalen Arbeiterbewegung, zur Bodensee-Internationalen, zum Generalstreik 1918 sowie zu den Themen Krieg und Frieden.
Der Nachlass Jäger ist Teil des Gewerkschaftsarchivs der Unia, bzw. deren Vorgängerorganisationen, das im Jahr 2011 als Schenkung ins Staatsarchiv St.Gallen kam. Der Bestand enthält Akten der Baubranche (SBHV/GBH/GBI = Bau- und Holzarbeitergewerkschaft), der Metallbranche (SMUV = Schweizerischer Metall- und Uhrenarbeitergewerkschaft) und des Dienstleistungssektors (VHTL = Verkaufs-, Handels-, Transport- und Lebensmittelgewerkschaft). Weitere Dokumente stammen von der Arbeiter-Union, neben dem Grütliverein, einer der frühsten Arbeitervereinen im Kanton St.Gallen sowie vom Gewerkschaftskartell, das gemäss dem Historischen Lexikon (online) ab ca. 1920 an Bedeutung gewann. Hauptschwerpunkt des Archivs bilden Protokolle der genannten Vorläuferorganisationen. Ergänzt wird der Bestand durch Unterlagen zu arbeitsrechtlichen Themen wie Arbeitszeiten, Arbeitsverträgen, Löhnen, Krankenversicherung, Bildung und Ferienregelung. Auch die Organisationsentwicklung der Gruppen, die Rekrutierung neuer Mitglieder und der Kampf um Anerkennung als Arbeitnehmervertretung gehören zu den zentralen Inhalten, die in den Akten dokumentiert sind. Zudem sind Bilder, Fotos, eine VHS-Kassette, Bücher und Objekte wie Fahnen, Transparente und Kuhglocken im Bestand enthalten.
1. Maifeier Rheineck 1919
Anfang des Jahrhunderts trugen viele Fachverbände und Gewerkschaftsgruppen an den 1.Mai Feiern Fahnen mit sich – hier eine Fahne von 1900
Signaturen:
StASG W 240/1.3: Unia Gewerkschaftsarchive, Nachlass Jakob Jäger
StASG W 240/1.5-1: Fahne Steinhauer Fachverein
StASG ZDG 8.6.1: Pressedokumentation zur Geschichte der Arbeiterbewegung in der Schweiz: Geschichte des 1. Mai
StASG W 076: Familienarchiv Custer von Altstätten in Rheineck
Quellen:
Historisches Lexikon Schweiz (Online): Erster Mai
URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D17444.php neues Fenster
Regula Wyss, Staatsarchiv St.Gallen
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