So sieht es also aus, ganz zuoberst in unserem Kanton! Exakt 3247,5 m ist er hoch, der Gipfel des Ringelspitz, und damit der höchste Punkt auf sanktgallischem Territorium. Seine Ersteigung gilt bis heute als einigermassen anspruchsvolle Berg- bzw. Klettertour und bleibt somit geübten Berggängerinnen und Berggängern vorbehalten. Umso mehr stellte der Ringelspitz eine alpinistische Herausforderung dar, als dem St.Galler Kaufmann Georg Sand-Frank am 9. Juni 1865, nach mehreren vergeblichen Anläufen in den Jahren zuvor, zusammen mit zwei Gefährten die Erstbesteigung gelang.
Die Erstbesteigung des Ringelspitz, 9. Juni 1865
Der im Folgejahr erstattete Tourenbericht schildert dieses historische Ereignis folgendermassen: "Die Expedition, welcher es vorbehalten blieb, das ersehnte Ziel zu erreichen, nahm, aus Herrn G. Sand und den Führern Elmer, Vater + Sohn, bestehend, ihren Ausgang von Trins und bezog am 8. Juni v.J. [vorigen Jahres] unter den günstigsten Auspicien [Vorzeichen] ihr Nachtquartier in einer Hütte der Alp Mora. Am folgenden Morgen brach man um ½ 4 Uhr auf (…)". Über die anspruchsvolle Erklimmung des finalen Gipfelgrats heisst es weiter: "Ein kleiner Vorsprung unter ihrem Standpunkt, auf welchen Elmer Vater zuerst den Sohn, dann Herrn Sand am Seile niederliess, ermöglichte diesen die Überschreitung der Spalte, während Elmer Vater zurückblieb. Nach wenigen Schritten betraten die beiden den jungfräulichen Boden des höchsten St.Galler Gipfels, wo sich ihnen eine grossartige Aussicht nach allen Seiten eröffnete, die sich W. [westlich] bis zum Monterosa, S. [südlich] bis zum Monte della Disgrazia und dem Berninastock, O. [östlich] bis zum Ortler, N. [nördlich] über das untere Rheinthal und einen Theil des Bodensees, die Appenzeller Berge und die Churfirsten erstreckte." (Versammlungsprotokoll SAC St.Gallen, 23. März 1866). Als Beleg ihres Erfolges errichteten die drei Pioniere auf dem Gipfel ein Steinmännchen, pflanzten ein Fähnlein ein und deponierten in einer mitgebrachten Flasche einen sogenannten "Wahrzettel", wie das damals – an Stelle des heute üblichen Eintrags in ein fix vor Ort liegendes Gipfelbuch – üblich war.
Georg Sand-Frank und die Gründung des SAC St.Gallen
Dass gerade Georg Sand-Frank die Ehre der Erstbesteigung des höchsten St.Galler Gipfels erlangte, ist kein Zufall, gehörte er doch damals zu den wichtigsten Bergsteiger-Pionieren der Ostschweiz. Auf sein Konto gehen weitere bedeutende Gipfelerfolge, u.a. die Erstbesteigung des glarnerischen Bifertenstock (1863). Vor allem aber zählte er zu den treibenden Kräften hinter der Gründung der Sektion St.Gallen des Schweizer Alpen-Clubs SAC. Der gesamtschweizerische Verein war bereits am 19. April 1863 im Bahnhofbuffet Olten aus der Taufe gehoben worden. Knapp zwei Monate später, am 3. Juni 1863, also vor genau 150 Jahren, fand dann im Restaurant Walhalla in St.Gallen in Anwesenheit von elf Personen die Gründungsversammlung der St.Galler Sektion statt, die somit bis heute nicht nur zu den mitgliedermässig grössten, sondern auch zu den ältesten Sektionen des Gesamtvereins gehört.
Der SAC St.Gallen damals: Ein Verein städtisch-bürgerlicher Eliten
Wie die überwiegende Mehrheit der Gründerväter des SAC St.Gallen entstammte Georg Sand dem städtischen Bürgertum. Ein Blick in die frühen Mitgliederlisten zeigt, dass es – übrigens nicht nur in St.Gallen – in der Tat vor allem Kaufleute und Fabrikanten, Professoren und Juristen, hohe Verwaltungsangestellte und Militärs waren, welche damals die Zeit und die finanziellen Mittel zur Verfügung hatten, die notwendig waren, um regelmässig in die Berge zu ziehen. Einfachen Arbeitern oder Angestellten war dies unter den damaligen sozialen Umständen, die geprägt waren von bis zu elfstündigen Arbeitstagen während 6 Tagen in der Woche und bescheidener Entlöhnung, kaum möglich. So findet sich unter den Mitgliedern der Gründerjahre auch manch prominenter Name: ein typisches Beispiel ist der erste Präsident des SAC St.Gallen, Friedrich von Tschudi, dessen eindrückliche politische Karriere bis in den Regierungsrat (1870-1873, 1875-1885) und Ständerat (1877-1885) führte.
Bis 1980 ein "Herrenclub"
Gänzlich vergebens sucht man in den ersten Mitgliederlisten nach Frauen. Zwar führte der SAC St.Gallen schon seit 1870 eine jährliche "Damentour" auf seinem Programm. Dabei handelte es sich um vergleichsweise einfache Ausflüge vorab in der näheren Region, zu denen auch Ehefrauen und Kinder der Clubmitglieder eingeladen waren und bei denen weniger Gipfelambitionen und körperliche Leistung als vielmehr das gesellige Beisammensein, Spiel und Spass im Zentrum standen.
Im Übrigen spielten Frauen im SAC aber lange Zeit kaum eine Rolle; seit der Statutenrevision von 1907 waren "Damen" sogar explizit von einer Mitgliedschaft ausgeschlossen. Dies führte ein paar Jahre später (1918) zur Gründung des Schweizerischen Frauen-Alpenclubs SFAC (ebenfalls mit einer St.Galler Sektion), womit der vereinsmässige Bergsport in der Schweiz auf Jahrzehnte hinaus geschlechtergetrennt organisiert war. Erst im Jahr 1980 kam es zur Aufhebung der "Frauensperre" und zur Fusion von SAC und SFAC.
Der SAC St.Gallen heute
Würde Georg Sand heute nochmals auf die Erde zurückkehren, so würde er sich wohl ziemlich wundern. In den letzten 150 Jahren hat sich der von ihm mitbegründete Club ziemlich verändert. Nicht nur Ausrüstung und Alpintechnik präsentieren sich heute komplett anders als damals.
Auch die Zusammensetzung der Mitgliederbasis hat sich in den letzten Jahrzehnten erheblich verbreitert und reicht heute quer durch alle Schichten der Gesellschaft hindurch. Insbesondere weist der Verein heute auch einen erheblichen Anteil an Frauen auf, die auf allen Ebenen und in verschiedensten Chargen ganz selbstverständlich "ihren Mann stellen". Was gleich geblieben ist, ist die Begeisterung der Mitglieder für die Berge und die damit verbundene rege Tourentätigkeit. Ein Angebot im aktuellen Tourenprogramm des SAC St.Gallen sticht dabei speziell heraus: Am ersten Juni-Wochenende des Jahres nimmt die Sektion das diesjährige Vereinsjubiläum zum Anlass für eine Tour der besonderen Art und will "ganz nach oben" – auf den Ringelspitz! Sie erweist damit ganz bewusst den Erstbesteigern vom 9. Juni 1865 ihre Ehre.
Signatur: Wy 023, historisches Vereinsarchiv des SAC St.Gallen
Literatur:
Andreas Ludwig: G. Sand-Frank, in: Derselbe: Festschrift zur fünfzigjährigen Jubiläums-Feier der Sektion St.Gallen S.A.C., 1863-1913, St.Gallen 1913 S. 107-109
Andreas Ludwig: Die erste Besteigung der Ringelspitze, in: Derselbe: Höhen und Tiefen in den Alpen, St.Gallen 1908, S. 141-162
Martin Jäger, Staatsarchiv St.Gallen
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