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Seit Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Kinder und Jugendliche im Alter von ca. 6 bis 16 Jahren ins Oberschwabenland geschickt, um dort auf einem Bauernhof einen Sommer lang als Hilfskräfte zu arbeiten. Diese Kinder wurden umgangssprachlich als "Schwabenkinder" bezeichnet.

Oberschwabenland

Der Kartenausschnitt zeigt das Oberschwabenland (Gebiet zwischen Bodensee und Donau); StASG KPH/Ausland (Schwaben), 1841
Der Kartenausschnitt zeigt das Oberschwabenland (Gebiet zwischen Bodensee und Donau); StASG KPH/Ausland (Schwaben), 1841

Die meisten Kinder kamen aus dem Kanton Graubünden, aber auch in St.Gallen war die Schwabengängerei verbreitet, vor allem in Werdenberg und im Rheintal. Der Grund, weshalb Eltern ihre Kinder auf einen fremden Bauernhof gaben, war in der Regel bittere Armut und Hunger. Die Schwabenkinder erhielten als Gegenleistung für ihre Arbeitskraft neben Kost und Logis Kleider und ein wenig Geld, was für die Daheimgeliebenen nicht selten überlebenswichtig war. 

In den Passkontrollen von Werdenberg und Rheintal aus dem 19. Jahrhundert ist eine Vielzahl von Kindern und Jugendlichen zu finden, bei denen als Reisebestimmung "Schwaben" angegeben ist. Im Jahr 1848 wanderten zum Beispiel der 13-jährige Jakob Reich aus Sennwald oder der 15-jährige Christian Dürr aus Gams nach Oberschwaben aus, um dort als "Arbeiter" ihr Brot zu verdienen: 

Passkontrolle von Werdenberg

Passkontrolle von Werdenberg; StASG KA R. 12/B 5.7
Passkontrolle von Werdenberg; StASG KA R. 12/B 5.7

Der Lehrer J. Kuster hat die Erinnerungen seiner Mutter niedergeschrieben, die aus dem St.Galler Rheintal stammte und als Kind mehrmals bei einem Bauern in Oberschwaben arbeitete. Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass im Frühjahr jeweils ein oder zwei Väter 15 bis 20 Mädchen und Knaben aus den umliegenden Dörfern zusammensammelten, um gemeinsam den weiten Fussmarsch nach Oberschwaben zurückzulegen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts stand ab Bregenz zumindest für ein Teilstück die Eisenbahn zur Verfügung. Die Vermittlung der Kinder an die Bauern fand an "Kindermärkten" in Ravensburg, Wangen und Friedrichshafen statt. Auf den Bauerhöfen mussten sie die unterschiedlichsten Arbeiten erledigen. Die Mutter von J. Kuster berichtete dazu:

"Gross- und Kleinvieh galt es zu hüten, Botengänge mussten besorgt werden, Kinder waren zu beaufsichtigen, wie es das Leben im Bauernhof mit sich bringt. Ein andermal erforderte die Acker- oder Feldarbeit unsere Hilfe. Zur Zeit der Getreideernte war natürlich das Aerenlesen Trumpf." [Kuster, J. Von der Schwabengängerei, in: Unser Rheintal, Jg. 5 (1948), S. 34] 

Verschiedene Archivalien im Staatsarchiv St.Gallen weisen darauf hin, dass die Schwabengängerei in Konflikt mit der Schulpflicht geriet, die im Kanton St.Gallen für sämtliche Kinder Gültigkeit hatte. Der Unterricht fand zwar vielfach nur im Winterhalbjahr statt, aber weil die Auswanderung nach Oberschwaben meist schon im Februar oder März erfolgte, konnten die Kinder nicht die volle Schulzeit absitzen. Die Behörden nahmen es mit der Schulpflicht allerdings nicht immer so genau. Sie liessen die Kinder ausreisen, obwohl sie eigentlich noch in die Schule hätten gehen müssen. Im Jahr 1847 schickte der Kleine Rat daher ein Kreisschreiben an die zuständigen Behörden und ermahnte sie, keine Ausweise und Pässe mehr an schulpflichtige Kinder auszustellen:

Kreisschreiben betreffend "Verschickung der Kinder nach Schwaben"

Kreisschreiben des Kleinen Raths an die Bezirksammänner und Gemeinderäthe betreffend "Verschickung der Kinder nach Schwaben", 1. September 1847; StASG ZA 1 (Amtsblatt des Kantons St.Gallen, 1847)
Kreisschreiben des Kleinen Raths an die Bezirksammänner und Gemeinderäthe betreffend "Verschickung der Kinder nach Schwaben", 1. September 1847; StASG ZA 1 (Amtsblatt des Kantons St.Gallen, 1847)

Allzu viel scheint dieses Kreisschreiben aber nicht genützt zu haben, denn fünf Jahre später wurde der Bezirksammann von Werdenberg erneut zurechtgewiesen. Auch der vorgedruckte Anmerkungsteil eines Reisepasses weist darauf hin, dass es immer wieder zu Verstössen gegen die Schuldordnungen kam:

"Gemäss den Schulordnungen beider Konfessionen dürfen keine Pässe an Kinder, die aus der Schule noch nicht entlassen sind und sich zum Viehhüten, Aerenlesen u.s.f. nach Schwaben begeben wollen, verabfolgt werden."

Reisepass

1891 ausgestellter Reisepass; StASG KA R. 12/B 5.7
1891 ausgestellter Reisepass; StASG KA R. 12/B 5.7

Im Kanton St.Gallen liess die Schwabengängerei im Raum Werdenberg ab Mitte des 19. Jahrhunderts stark nach. Nun boten die grossen Spinnereien und Webereien neue Arbeitsplätze. Im Unterrheintal zogen hingegen bis Anfang des 20. Jahrhunderts Kinder nach Oberschwaben, um dort zu arbeiten.

Signaturen:
StASG, KA R. 12/B 5.7, Bezirk Werdenberg, Passkontrolle, 1803-1931
StASG, KA R.98-2-2-18, Reisepässe für schulpflichtige Kinder (Schwabengänger), 1852
StASG, KPH/Ausland (Schwaben)
StASG, ZA 1 (Amtsblatt des Kantons St.Gallen, 1847) 

Literatur:
Bühler, Linus. Die Schwabengänger: Als Schweizer Kinder ihr Brot im Ausland verdienten. In: Terra Plana, 4 (1976), S. 43-45.
Kuster, J. Von der Schwabengängerei. In: Unser Rheintal, 5 (1948), S. 32-35.
Lemmenmeier, Max. Die Anfänge einer bürgerlich-industriellen Gesellschaft. In: Sankt-Galler Geschichte 2003, Bd. 5, S. 10-98.
Seglias, Loretta. Die Schwabengänger aus Graubünden: saisonale Kinderemigration nach Oberschwaben. (Quellen und Forschungen der Bündner Geschichte; Bd. 13). Chur 2004. 

Anna Schneider, Staatsarchiv St.Gallen

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