Das Thema psychische Gesundheit ist wichtig. Dessen Bedeutung wurde durch die COVID-19 Krise und die momentane Kriegssituation in Europa noch akzentuierter deutlich. Wie steht es um die psychische Gesundheit bei den Personen, die im Sexgewerbe tätig sind?
Das Bundesamt für Gesundheit BAG engagiert sich, die psychische Gesundheit aller Menschen in der Schweiz zu fördern und definiert folgendermassen:
"Psychisch gesund fühlt sich eine Person, wenn sie ihre intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten ausschöpfen, ihre alltäglichen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und in der Gesellschaft einen Beitrag leisten kann." (siehe www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-auftraege-und-aktionsplaene/politische-auftraege-im-bereich-psychische-gesundheit/dialogbericht-psychische-gesundheit.html)
Im September 2021 wurden im schweizerischen Parlament je ein Postulat (Baptiste Hurni: Wie steht es um den psychischen Gesundheitszustand der Schweizerinnen und Schweizer?) und eine Motion (Benjamin Roduit: Langzeitstudie über den physischen und psychischen Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz) eingereicht, in denen der Bundesrat aufgefordert wurde, die psychische Gesundheit der Bevölkerung zu untersuchen und damit eine wichtige Datengrundlage für allfällige weitere Massnahmen zu erhalten.
Im Angebot der Psychotherapie liegt ein prekärer Versorgungsengpass vor, insbesondere für Kinder und Jugendliche. Im März 2021 hat der Bundesrat entschieden, den Zugang zu Psychotherapie zu verbessern: psychologische Psychotherapeut*innen können ab Juli 2022 zulasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung selbständig tätig sein.
Gesellschaft und Politik wissen um die Bedeutung der psychischen Gesundheit und wollen diese fördern.
Aber was bedeutet psychische Gesundheit im Bereich der Sexarbeit? Die European Sex Workers' Rights Alliance ESWA, bei welcher Maria Magdalena Mitglied ist, veröffentlichte dazu im Oktober 2021 eine Arbeit (siehe www.eswalliance.org/briefing_paper_on_sex_work_and_mental_health). Diese geht der Frage nach, welche spezifischen Faktoren die psychische Gesundheit beeinflussen und wie es um sie steht.
Sexarbeiter*innen sind verschiedenen Risikofaktoren ausgesetzt: Stigmatisierung, Kriminalisierung, Gewalt, finanzielle Probleme, erschwerter Zugang zu Informationen und Unterstützung, isolierte Lebenssituation, etc. Belastungen können mit der beruflichen Tätigkeit im Zusammenhang stehen, können aber, wie bei allen anderen Menschen, unabhängig davon vorliegen. Bekannt ist die Diskussion, ob eine Sexarbeitende diese Erwerbstätigkeit wählt, weil sie nur über wenige Ressourcen verfügt und eine hohe Verletzlichkeit mitbringt - ist sie demnach ein Opfer und sollte geschützt werden? - oder ob die gesetzlichen und sozialen Umstände dieser Arbeit Stressfaktoren darstellen, welche sie bewältigen muss - die Arbeit ist selbstbestimmt gewählt. Inwieweit eine Verletzlichkeit unabhängig von der Tätigkeit vorliegt, kann kaum beantwortet werden. Zu gross sind die Unterschiede in Herkunft, Ausbildung und Motivation für eine entsprechende Bewertung. Dass die Gegebenheiten rund um die Arbeit jedoch Belastungsfaktoren darstellen ist offensichtlich und mehrfach dokumentiert.
In der Folge wird auf die vier häufigsten Belastungsfaktoren eingegangen:
Stigma - Sexarbeit ist eine gesellschaftlich nicht anerkannte Erwerbstätigkeit. In der Studie von ESWA geben 83% der Befragten an, unter der Tatsache zu leiden, dass sie ihre Tätigkeit nur im Versteckten machen können; dass sie Angst haben, von Familienmitgliedern, Freunden, Bekannten, Nachbarn oder Autoritätspersonen als Sexarbeitende erkannt und geächtet zu werden. Das Stigma macht das Leben kompliziert und führt unweigerlich zu Isolation. Des Weiteren verstärkt die recht verbreitete Meinung, dass Sexarbeitende Opfer (ihrer selbst, ihrer Biographie oder von Anderen) sind, das Stigma. Über Sexarbeitende und ihre Lebenssituation zu urteilen, ohne sie selbst zu Wort kommen zu lassen, stellt eine übergriffige Handlung und Entmündigung dar und macht schlussendlich die Sexarbeitende tatsächlich zum Opfer, nämlich jenem der gesellschaftlichen Haltung.
Kriminalisierung - Die Position der Sexarbeitenden in der Gesellschaft hängt auch vom legalen Status ab. Kriminalisierung der Sexarbeitenden, ihrer Tätigkeit oder der Kundschaft, wie dies in vielen Ländern der Fall ist, macht die deutliche Aussage, dass Sexarbeit nicht eine legale, selbstgewählte Tätigkeit darstellt, sondern Sexarbeitende entweder kriminelle Personen oder hilflose Opfer sind, welche nicht für sich selber sorgen können. Kriminalisierung von Sexarbeit erhöht das Stigma von Sexarbeitenden, belastet die psychische Gesundheit und erschwert ihnen den Zugang zu Beratung und Unterstützung.
Gewalt - Stigma, Isolation und fehlende rechtliche Unterstützung erhöhen das Risiko von Gewalterfahrungen. Sexarbeitende mit Migrationshintergrund oder LGTBQ* Identität und Orientierung sind deutlich anfälliger für Erfahrungen von Stigma und Gewalt. Für Sans Papiers kommt ein weiterer, grosser Druck dazu: ihre Arbeit macht sie sichtbar und die Angst, entdeckt zu werden und das Land verlassen zu müssen sind ständige Begleiter.
Finanzielle Situation - 83 % der in der ESWA Studie befragten Sexarbeitenden berichten, dass die finanzielle Situation – durch die COVID-19-Pandemie massiv verstärkt – eine grosse psychische Belastung darstelle. Oft lebt eine Grossfamilie vom Erwerb einer Sexarbeitenden. Wenn andere Einnahmequellen fehlen, steigt der Druck, dass die Sexarbeitende aus Geldnot auch risikoreiche Dienstleistungen erbringt, was ihre physische und psychische Gesundhit gefährdet.
Bis sich all diese genannten negativen und die psychische Gesundheit belastenden Rahmenbedingungen in einem positiven Sinn aufgelöst haben werden, sind die Sexarbeitenden darauf angewiesen, niederschwelligen Zugang zu Information und Unterstützung für ihre Gesundheit zu finden. Einerseits braucht es spezialisierte Beratungsstellen wie Maria Magdalena im Kanton St.Gallen; andrerseits ist eine Sensibilisierung der Fachpersonen des Gesundheitswesens wichtig, damit nicht Vorurteile und falsche Bilder die Kommunikation erschweren. Auch - oder besonders - Personen, welche ihr Geld im Sexgewerbe verdienen, sind angewiesen auf Respekt und Offenheit in der Begegnung, wenn sie Ratsuchende sind.
Maria Magdalena macht aufsuchende Sozialarbeit und Prävention von sexuell übertragbaren Infektionen, führt für Sexarbeitende einen wöchentlich stattfindenden niederschwelligen Treffpunkt an drei verschiedenen Standorten im Kantons durch, berät Personen des Sexgewerbes in verschiedenen Themenbereichen und trägt damit einen wichtigen Teil für den Bereich der sexuellen und der psychischen Gesundheit bei.
Anderen Institutionen bietet Maria Magdalena ihr Spezialfachwissen und ihre Expertise bezüglich Beratung von Personen aus dem Sexgewerbe an um durch den Zuwachs von Wissen und Sensibilisierung optimale Voraussetzungen zu schaffen.
Psychische Gesundheit ist ein wichtiges und wertvolles Gut, welches wir gemeinsam als Gesellschaft für uns selbst und für die Anderen schützen und fördern sollen.
Wir wünschen auch Ihnen, dass Sie Ihre Fähigkeiten in Ihrem Alltag einbringen können, sich in Körper und Geist wohl fühlen und verabschieden uns mit Arthur Schopenhauer:
"Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts."
Team Maria Magdalena & Priapos