Die Dezember-Ausgabe des «Schulblatt Extra» 2023 widmet sich dem «Gymnasium der Zukunft», dem grössten gymnasialen Reformprojekt der letzten drei Jahrzehnte. Es geht um neue Lehr- und Lernformen, um die Rahmenbedingungen gymnasialen Lehrens und Lernens und um die Schnittstellen zur Oberstufe und zur Hochschule.
2018 fiel der Startschuss für zwei Projekte, welche die Zukunft des Gymnasiums mitgestalten: Das St. Galler Projekt «Gymnasium der Zukunft» strebt ein Gesamtkonzept für einen zeitgemässen Unterricht an. Das gesamtschweizerische Projekt «Weiterentwicklung der Gymnasialen Maturität» (WEGM) aktualisiert den EDK-Rahmenlehrplan und das Maturitätsanerkennungsreglement (MAR). Beide Projekte fragen nach den richtigen gymnasialen Bildungsinhalten und einer zeitgemässen Didaktik, das eine auf kantonaler, das andere auf gesamtschweizerischer Ebene. Beide zielen auf die Sicherung der allgemeinen Hochschulreife und der vertieften Gesellschaftsfähigkeit. Beide befinden sich auf der Zielgeraden.
Das Nebeneinander ist ein Paradebeispiel für gelebten Föderalismus. Nachdem nun auf nationaler Ebene die Eckpunkte des Rahmenlehrplans festgelegt sind und auf kantonaler Ebene ein Gesamtkonzept erarbeitet wurde, kann auf kantonaler Ebene bald mit der Lehrplanarbeit begonnen werden. Der Kanton St. Gallen hat damit bereits wichtige Arbeiten geleistet, die in den meisten anderen Kantonen erst noch zu erledigen sind. Wir sind in der komfortablen Situation, dass wir uns im Gymnasium auf das Wesentliche konzentrieren können: Welche Inhalte wollen wir den Schülerinnen und Schülern genau vermitteln? Wie stellen wir sicher, dass die bisherige hohe Qualität der Ausbildung auch mit dem neuen Modell gelebt werden kann, das die Schülerinnen und Schüler an moderne Lern- und Arbeitsformen gewöhnt und neue Unterrichtsgefässe definiert? Wie kann sichergestellt werden, dass alle, die das kognitive Potenzial und den Willen dazu haben, auch tatsächlich den Übertritt ins Gymnasium schaffen? Welche Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte können und sollen wir den Schülerinnen und Schülern einräumen?
Hintergrund der Reform ist eine Zeitenwende. Die letzte grosse Debatte über das Gymnasium liegt mehr als 30 Jahre zurück. In der Zwischenzeit hat die Digitalisierung Einzug gehalten, haben sich Gesellschaft und Wirtschaft weiterentwickelt – so sehr, dass andernorts die Fächerorientierung gleich zugunsten einer reinen Kompetenzorientierung aufgegeben wurde. Das ist für das Gymnasium der Zukunft nicht vorgesehen, zumal das Gymnasium auch die allgemeine Hochschulreife zum Ziel hat, was eine gewisse fachliche Ausbildung zwingend erforderlich macht.
Das klassische Schulfach ist und bleibt der zentrale Denk- und Handlungsrahmen. Daran ändern weder das kantonale Projekt «Gymnasium der Zukunft» noch das nationale Projekt «Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität» etwas. Auch die Lehrerinnen und Lehrer bleiben in ihrer bewährten Rolle als Wissensvermittlerinnen und -vermittler, werden aber zunehmend zu Lernbegleiterinnen und Coaches. Sie sind zentral für den Lernerfolg und dafür, dass die Jugendlichen ihre Bildungsbiografie eigenverantwortlich und selbstbestimmt gestalten können.
Die Kraft der Reform liegt nicht im grossen, revolutionären Wurf. Sie liegt darin, dass Bewährtes erhalten bleibt – und Neues dort eingeführt wird, wo es notwendig ist.
Tina Cassidy
Leiterin Amt für Mittelschulen