Einmal im Jahr diskutiere ich mit den Spezialistinnen und Spezialisten unseres Beratungsdienstes Schule ein Grundsatzthema. Dieses Mal hatte ich den Gedanken, den Einfluss der Siedlungs- und Sozialstruktur auf die Schule ins Blickfeld zu rücken. Welche unterschiedlichen Eltern treffen die Lehrpersonen in ihrem Austausch, in Elterngesprächen an? Machen die Schülerinnen und Schüler auf dem Land gegenüber den Schülerinnen und Schülern aus der Stadt «Zweite» – oder umgekehrt? Brauchen Kinder auf dem Land anders ausgebildete Lehrpersonen als solche in der Stadt? Sollen kantonale Vorgaben für Stadt- und Landschulen künftig unterschiedlich sein?
Natürlich war mein Themenwunsch etwas provokativ. Die Fachpersonen haben clever reagiert: Sie haben mich vom Zielbild Stadt-Land augenzwinkernd weggeführt und, breiter ausholend, mit sogenannten Sinus-Milieus aus der Sozialwissenschaft1 konfrontiert. Danach gebe es in der Gesellschaft – und demnach bei den Eltern – im Koordinatennetz untere-obere Schichten / Traditionalisten-Innovatoren 10 Milieus: von den «genügsamen Traditionalisten» über die «bürgerliche Mitte» und die «adaptiv Pragmatischen» hin zu den «Performern» oder den «digitalen Kosmopoliten ». Statistisch dominiert offenbar keines dieser Milieus die anderen, alle liegen zwischen 7 und 16 Prozent. Wo die «Arrivierten» oder die «Eskapisten», um zwei weitere zu erwähnen, als Kinder aufgewachsen sind und wo sie heute als Eltern wohnen, ist im Zeitalter der Mobilität und der digitalen Omnipräsenz nicht ausschlaggebend. Sodann haben wir beim Blick auf die Landkarte der Schweiz rasch zur Kenntnis zu nehmen, dass es zwar die typischen Land- und Berggebiete und die klassischen grösseren Städte gibt. Bei weitem nicht immer findet sich allerdings «klar Toggenburg» oder «klar Basel-Stadt», sondern häufig treffen wir auf ein «unklar Rheintal» oder «unklar Limmattal» – was ist in diesen Siedlungsteppichen Land, was Stadt?
Ich hatte nicht darauf spekuliert, dass man mir auf meine Fragestellung antworten würde: «Ja – künftig sollten wir Stadt- und Land-Lehrpersonen ausbilden! » Trotz dem plakativen Diskussionsansatz haben wir aus dem Workshop aber alle gelernt, dass die Gesellschaft weit vielschichtiger ist, als grobe Gegensätze wie Stadt-Land oder Berg-Tal oder reich-arm uns vorspiegeln. Auch die 10 Sinus-Milieus sind wohl nur eine Annäherung an die Realität. Es macht auch keinen Sinn, für sie – mit der «konsumorientierten Basis», den «gehoben Bürgerlichen» und den «Postmateriellen» sind jetzt alle genannt – passgenau ausgebildete Lehrpersonen zu fordern. Bekanntlich ist unsere Gesellschaft heterogen und bekanntlich haben wir den Umgang mit Heterogenität längst in unseren Bildungsstrategien erfasst. Was wir aber ins Bewusstsein rücken müssen: Umgang mit Heterogenität heisst für die Schule nicht, für heterogene Milieus heterogene Bezugspersonen masszuschneidern. Im Gegenteil: Die Schule ist als sozialer Integrationsfaktor berühmt. Dieser kann sie aber nur bleiben, wenn die Lehrpersonen generalistisch mit allen Milieus zurechtkommen und die Grenzen der sozialen Silos öffnen. Die Stärke der öffentlichen Schule in der Schweiz liegt darin, dass sie alle Schulkinder als gleichwertige Menschen mit ihren Potentialen und Grenzen aufnimmt, im sozialen Klassenverband zusammenbringt und dort führt, fördert und prägt. Damit sind wir beim anderen wichtigen Schlagwort der Bildungsstrategien: der Chancengerechtigkeit.
Wir wollen mit unserer Schule die gesellschaftlichen Milieus nicht zementieren, sondern lockern. Ich habe volles Vertrauen in unsere Hochschulen, dass sie den angehenden Lehrpersonen genau dafür die dafür richtigen Kompetenzen verschaffen. Und in unsere Lehrpersonen und Schulleitungen, dass sie diese Kompetenzen im Unterrichtsalltag zu nutzen wissen. Sie passen in jede St. Galler Schule. Das haben sie gerade in den letzten zwei Jahren unter Beweis gestellt: Während der Pandemie haben sie eindrücklich gezeigt, dass sie mit den Kindern und ihren Eltern aus den verschiedenen, sich bekanntlich immer stärker profilierenden Milieus zurechtkommen und gesellschaftliche Gegensätze überbrücken können. Das ist eine tolle Leistung und dafür bedanke ich mich herzlich bei Ihnen!
Regierungsrat Stefan Kölliker,
Vorsteher des Bildungsdepartementes