Am 15. Mai 2022 stimmt die Stimmbevölkerung über die Beteiligung der Schweiz am Ausbau von Frontex ab. Die Abstimmung hat für die Schweiz und den Kanton St.Gallen grosse Tragweite: Nur ein Ja sichert den Fortbestand der europäischen Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich und im Asylwesen.
Bei der Kontrolle der EU-Aussengrenzen werden die Schengen-Staaten von Frontex, der europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, unterstützt. Die Schweiz beteiligt sich seit 2011 an Frontex. Die Migrationskrise 2015 hat gezeigt, dass die Mittel der Grenz- und Küstenwache nicht ausreichen. Die EU hat deshalb den Ausbau von Frontex beschlossen und setzt diese Reform bereits seit 2019 um. Mit dem Ausbau erhält Frontex mehr Geld und mehr Personal. Dazu kommen neue Aufgaben im Bereich der Rückkehr ausreisepflichtiger Personen. Zudem wird die unabhängige Stelle für Grundrechte aufgestockt. Sie trägt dazu bei, dass bei Einsätzen an den Schengen-Aussengrenzen die Rechte aller gewährt werden. Mit der Vorlage, die zum Schengen-Besitzstand gehört, übernimmt die Schweiz ihren Anteil an dieser Reform.
Fortbestand der Schengen-/Dublin-Zusammenarbeit
Eine Ablehnung der Vorlage als Bestandteil des Schengen-Besitzstands hätte unweigerlich zur Folge, dass die bilateralen Abkommen zur Schengen-/Dublin-Zusammenarbeit dahinfielen. Dies geschieht automatisch, sofern nicht zwischen der Schweiz und der EU im Gemischten Ausschuss und mit einstimmigem Beschluss sowie binnen 90 Tagen eine neue Regelung vereinbart werden kann. Letzteres scheint der Regierung unrealistisch. Dies, weil sich alle EU-Mitgliedstaaten und die assoziierten Staaten Norwegen und Island in langen Verhandlungen auf ihre jeweiligen solidarischen, finanziellen und personellen Beiträge an den Aussengrenzschutz geeinigt haben und die EU Speziallösungen für die Schweiz schon aus Gründen der Gleichbehandlung ablehnen muss; unrealistisch aber auch wegen der gescheiterten Verhandlungen über das Institutionelle Abkommen (InstA). Auch würde mit einem nein in einer Zeit, wo Europa wegen dem Krieg in der Ukraine näher zusammenrückt, ein falsches Zeichen gesetzt.
Weitreichende Folgen bei Beendigung der Schengen-/Dublin-Zusammenarbeit
Die unter dem Titel «Schengen/Dublin» bekannte Zusammenarbeit europäischer Staaten in den Bereichen Justiz, Polizei, Visa und Asyl ist etabliert und von grosser Bedeutung für den Kanton St.Gallen.
Bei einer Beendigung von Schengen/Dublin würde die weit ausgebaute polizeiliche Zusammenarbeit inklusive Zugriff auf die europäischen Polizeisysteme, die Migrationskontrolle bei Einreisen sowie auch die enge Zusammenarbeit der Schweiz mit der EU im Bereich der Rückübernahmeabkommen gegenüber Herkunfts- und Drittstaaten von abgewiesenen Asylgesuchstellern und den gemeinsamen Rückführungsflügen aufgehoben.
Darüber hinaus stünden – wenn auch nicht rechtlich, so doch faktisch und politisch – wohl auch die Prümer-Zusammenarbeit mit allen EU-Staaten, die Beteiligung der Schweiz am EU-Polizeikooperationskodex, sowie auch die Beteiligung am künftigen EU-Grenzkodex in Frage.
Kein Zugriff auf das Schengener Informationssystem SIS
Mit dem Wegfall der Schengen-Zusammenarbeit würden die Polizei, das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG), das Staatssekretariat für Migration (SEM), die kantonalen Migrationsbehörden, die Schweizer Botschaften und Konsulate im Ausland und die Strassenverkehrsämter den Zugriff auf die europäischen Informations- und Fahndungssysteme, insbesondere das Schengener Informationssystem SIS verlieren. Die europaweite Ausschreibung «per Knopfdruck», die Möglichkeit, die gespeicherten Daten überall und jederzeit ohne Verzug online abzufragen, würden wegfallen.
Derzeit hat die Schweiz über eine Million Personen- und Sachfahndungen im SIS gespeichert und kann auf über 90 Millionen Fahndungen der anderen Schengen-Staaten zugreifen. Pro Tag gibt es rund 300'000 Schweizer Zugriffe; alle 30 Minuten resultiert ein Treffer mit einem Bezug zur Schweiz.
Anders als heute könnten die schweizerischen Behörden nicht mehr feststellen, ob bestimmte Personen im Schengen-Raum gesucht werden, und sie könnten auch selbst keine Fahndungen mehr ins SIS einspeisen. Gerade in den Bereichen des Terrorismus und der organisierten Kriminalität wäre dies fatal. Ein grosser Vorteil von SIS ist, dass gerade Angehörige einer kriminellen Organisation «geflaggt», das heisst durch eine verdeckte SIS-Ausschreibung auf ihrem Weg verfolgt werden können. Im Kanton St.Gallen werden pro Jahr durchschnittlich zwei Personen aufgrund einer Ausschreibung wegen des Verdachts der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Organisation angehalten.
Im SIS werden straffällige Personen zur Verhaftung ausgeschrieben. Das System enthält gleichzeitig Informationen über Personen, gegen die ein Einreiseverbot verhängt worden ist. Gespeichert werden auch Fahrzeuge, Sachen und Waffen, nach denen gefahndet wird. Auch Informationen über Personen, die vermisst werden, oder über mögliche Opfer von Zwangsheiraten oder Menschenhandel oder auch Kinder, die von einem Elternteil entführt werden könnten, sind im SIS enthalten.
Massive Nachteile auch im Asylbereich
Auch im Asylbereich würden sich massive Nachteile ergeben. Die Behörden könnten nicht mehr prüfen, ob eine asylsuchende Person bereits in einem anderen europäischen Land Asyl beantragt hat – womit alle in europäischen Ländern abgewiesenen Asylsuchenden in der Schweiz ein zweites Gesuch einreichen könnten. Diese Personen könnten auch nicht mehr, wie heute, in das Erstasylland zurückgewiesen werden. Der Vollzug von Wegweisung von Drittstaatsangehörigen mit irregulärem Aufenthalt würden erschwert.
Negative Folgen für den Tourismus
Fällt die Schengen-Zusammenarbeit weg, wäre hiervon auch der Tourismus massgebend betroffen. Die Grenzen zwischen der Schweiz und ihren Nachbarstaaten würden zu einer «Schengen-Aussengrenze», was aufgrund der notwendig werdenden Kontrolltätigkeit nicht nur den grenzüberschreitenden Reiseverkehr behindern, sondern auch für ausländische Riesende zu Einschränkungen führen würde: Diese müssten neben dem Schengen-Visum ein zweites Visum für die Schweiz beantragen oder auf Aufenthalte in der Schweiz verzichten.