Am Montag, 24. August 2020, erhalten Kunstschaffende 14 Werkbeiträge und zwei dreimonatige Atelieraufenthalte in Rom. Die Übergabe findet im Raum für Literatur in der Hauptpost St.Gallen statt und erfolgt zum ersten Mal durch die Vorsteherin des Departements des Innern, Regierungsrätin Laura Bucher.
Bei der jährlichen Vergabe zeigt sich immer wieder, wie vielfältig, innovativ und qualitativ hochstehend das kulturelle Schaffen im und aus dem Kanton St.Gallen ist. Die Unterstützung gibt die nötige Zeit, Ideen, Vorhaben und Werke auszuarbeiten und die künstlerische Tätigkeit weiterzuentwickeln. Die Ideen müssen nicht unbedingt werkspezifisch sein, sondern können auch eine individuell zusammengestellte Weiterbildung umfassen. Alle Eingaben sind durch Persönlichkeiten aus den spartenbezogenen Fachjurys, teils selbst Kunstschaffende, teils Vermittelnde oder andere Fachpersonen, begutachtet und in intensiven Sitzungen besprochen worden.
2020 erhalten die folgenden Kunstschaffenden einen Werkbeitrag:
Angewandte Kunst/Design: Céline Arnould, Schmerikon; Lionel Umbricht, St.Gallen
Bildende Kunst: Bianca Barandun, Gossau; Rita Kappenthuler, Abtwil, und Nathan Federer, St.Gallen; Kilian Rüthemann, Basel; Andrea Vogel, St.Gallen
Geschichte und Gedächtnis: Matthias Fässler, St.Gallen
Literatur: Hildegard Keller, Zürich; Frédéric Zwicker, Rapperswil
Musik: Basil Kehl, St.Gallen; Ramon Landolt, Zürich; Raphael Loher, Luzern
Theater/Tanz: Nelly Bütikofer, Rapperswil-Jona; Livia Rita Heim, Neu St.Johann
Je einen dreimonatigen Aufenthalt ab Dezember 2020 in der Atelierwohnung in Rom erhalten Sebastian und Thomas Marbacher, Zürich und St.Gallen, und direkt danach Tine Edel aus St.Gallen.
Angewandte Kunst und Design – Porzellan und Haar, Zeichnung und Animation
Eine Liaison zwischen natürlichem Material und einem ungewohnten Einsatz für Schmuck- und Erinnerungsgegenstände bilden den Kern von Céline Arnoulds Arbeiten. Sie stellt eine ungewöhnliche Verbindung mit menschlichem Haar und Porzellan her und formt sie in einem komplexen Verfahren zu feinsten Porzellangefässen. Die Designerin hat in ihrem noch jungen beruflichen Werdegang bereits eine erstaunliche Wandlung von der Handwerkskunst einer Coiffeuse zur Designerin von ungewöhnlichen Alltagsobjekten vollzogen. Der Werkbeitrag soll diesen Entwicklungsprozess fördern.
Ganz anders das Vorhaben «Tales of Robo» von Lionel Umbricht, einem jungen St.Galler. Robo ist der Held einer Geschichte, die noch nicht fertig erzählt ist. Aber er besteht bereits und taucht mal als schwarze Silhouette in einer gerahmten Waldszene, mal in einem Kunstdruck auf, aber auch auf der gekachelten Wand einer St.Galler Bar oder auf Skateboards. Lionel Umbricht plant, weitere Stationen mit Robo in Form eines illustrierten Buches und allenfalls in einem Animationsfilm zu einer Geschichte zusammenzufügen. Was die Figur, die melancholisch in die Welt blickt, alles erleben wird, ist noch offen, macht aber neugierig.
Bildende Kunst und verschiedene Untersuchungen des Alltags
Bianca Baranduns Vorhaben widmet sich dem gesellschaftlichen Phänomen «Hikimori», das mittlerweile auch Europa erreicht hat. Hikikomori heisst auf Japanisch so viel wie «sich wegschliessen» und ist die Bezeichnung einer Zivilisationskrankheit. Unmut, mangelndes soziales Umfeld und Leistungsdruck führen junge Menschen in die Isolation. So möchte Bianca Barandun in ihrem Vorhaben eine raumumfassende Installation zu Hikikomori erarbeiten und diese krankhafte Wohlstandserscheinung für Betrachterinnen und Betrachter nicht nur visuell, sondern auch physisch zugänglich machen.
Rita Kappenthuler und Nathan Federer bezeichnen sich als Jägerin und Sammler. Unterwegs sind sie nicht mit Bären- sondern mit Bilderfallen, respektive Kartonschachteln, die sie in Camerae Obscurae umgebaut haben. Ihre Experimente teilen sie in drei Aspekte: Technik, Performance und Betrachtung. Dadurch ergeben sich viele Querverbindungen und Fragen, denen sie nachgehen wollen, um weitere Erkenntnisse und Bilder zu gewinnen und um das Staunen als Spielfeld intuitiver Entscheidungen zu vergrössern.
Das Vorhaben einer Skulptur mit dem Titel «Re-Position» des Künstlers Kilian Rüthemann wird ein Objekt sein, das aus leicht durchscheinendem, rotem Silikon und aus einem einzigen Stück bestehen wird. Die geplante Skulptur ist durchdacht und ausgefeilt und der Künstler weiss, wie er vorgehen möchte und in welcher Weise dabei Material und Herstellung das Objekt beeinflussen, das zudem bei jeder Präsentation seine Form ändert. «Re-Position» ist eine faszinierende Gratwanderung zwischen Präzision und Zufall und zwischen Kalkulation und Unvorhergesehenem.
Die Performerin Andrea Vogel schafft es mit ihrem Projekt «Sculpture Massage», uns zum Nachdenken über die Funktion und Bedeutung von Skulpturen im öffentlichen Raum anzuregen. Ihre irritierende Geste, Skulpturen zu massieren, als ob es lebendige Wesen wären, hat etwas Absurdes, etwas Frappierendes und Plausibles. Die Künstlerin hat die Skulpturen sorgfältig ausgewählt: Sie befinden sich auf der sogenannten «Strasse des Friedens», ursprünglich die pazifistische Idee des Malers und Bildhauers Otto Freundlich (1878–1943).
Geschichte und Gedächtnis – Auseinandersetzungen ums Asylrecht
In dieser Sparte erhält der St.Galler Historiker Matthias Fässler für sein Vorhaben «Die Geschichte des Schweizer Ausschaffungsregimes – ein Blick in den Kanton St.Gallen» einen Werkbeitrag. Es geht um das Asylrecht in der Schweiz vor dem Hintergrund eines behaupteten Missbrauchs und einer angeblichen Überfremdung. Dabei wird er einen besonderen Fokus auf die Ausschaffungsgeschichte im Grenzkanton St.Gallen richten, wird Quellenbestände erschliessen und mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, auch betroffenen Migrantinnen und Migranten sprechen.
Literatur – zwei Romanprojekte
Hildegard Keller erzählt in ihrem Roman von den letzten Monaten im Leben der Philosophin Hannah Arendt. Der aktuelle Text besitzt die Eigenschaften, die ein biografischer Roman aufweisen muss, um den Weg auch zu jenen Lesenden zu finden, die sich bislang kaum oder gar nicht mit dem faszinierenden Werk und dem turbulenten Leben dieser Frau beschäftigt haben. Denn keine Intellektuelle hat bis heute mehr Einfluss auf den politischen Diskurs und das Denken überhaupt gehabt als Hannah Arendt. Das hat mit ihrem niedergeschriebenen Denken und auch der ganz direkten, bis heute spürbaren Ausstrahlung ihrer Person zu tun.
Der zweite Literaturwerkbeitrag geht an den Rapperswiler Frédéric Zwicker. Er möchte den Fund von historischen Briefen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs mit einer zeitgenössischen Liebesgeschichte verbinden. Dabei setzt er den Fokus auf Themen wie Liebe, Trauer, Abschied und die Suche nach familiären Wurzeln wie auf die Einbettung in die Schweizer Geschichte während der Zeit des Nationalsozialismus und ihre Flüchtlingspolitik. Das Spannungsfeld der zwei Erzählstränge liegt zeitlich zwischen dem 20. und dem 21. Jahrhundert und bewegt sich thematisch um Fragen der gesellschaftlichen Vorstellungen und Veränderungen.
Musik – elektronisch, aus Klängen oder präpariert
Basil Kehl ist nebst dem Elektro-Mundart-Duo «Dachs» auch als Solokünstler «Wassily» unterwegs. Das Problem seiner Live-Sets ist aber, dass er meist hinter einer Wand von Synthesizern, elektronischen Tools und Reglern verschwindet. Nun möchte er künftig mehr «direkten Draht» zum Publikum haben. Um diese Live-Momente zu erschaffen, möchte er die elektronischen Geräte reduzieren und Instrumente wie Bass, Gitarre oder Perkussion einsetzen. Dies zwingt ihn, seine Musik in der richtigen Mischung aus Geräten, live gespielten Instrumenten und Loops neu zu denken.
Ganz anders das Projekt des Flawiler Musiker Ramon Landolt: Wenn Eis zu Wasser schmilzt, entsteht eine Vielzahl aussergewöhnlicher Geräusche, Klänge und Töne. Es sind diese «Iced Sounds», die ihn interessieren und unter anderem das Tonmaterial für sein neuestes musikalisches Vorhaben liefern. Auf persönliche und emotionale Weise setzt sich der junge Musiker darin mit den Klimaveränderungen und ihren Auswirkungen auf die Umwelt und die Menschen auseinander. Auf der Grundlage der gesammelten Feldaufnahmen will er mit seiner Komposition in einen imaginären Dialog mit der bedrohten Welt treten.
Und wieder anders der vom Jazz kommende Musiker Raphael Loher: Er arbeitet an Werken für Klavier solo. Dafür präpariert er die Saiten mit Magneten, Klebeband und Knetmasse, erschafft sich so einen abenteuerlichen Raum und experimentiert mit verfremdeten Klängen. Die Technik des Klavierpräparierens stammt vom Komponisten John Cage und bietet heute noch viele unerforschte Möglichkeiten. Ideen und Skizzen für Raphael Lohers neue Stücke sind schon weit gediehen und zeugen von der Dringlichkeit des Vorhabens, das aber viel Zeit und Geduld erfordert.
Tanz und Theater – Knochen und Corona
Die Choreografin und Regisseurin Nelly Bütikofer gehört zu den Pionierinnen der freien Schweizer Tanzszene. Als klassische Tänzerin ausgebildet, liebt sie es, dem Tanz mehr Freiheit zu geben und sich mit anderen künstlerischen Sparten zu verbinden. So auch in ihrem Vorhaben «in corpore», in dem sie sich dem Thema Knochen widmet und das auf den bildkräftigen Gedichten der Rapperswiler Autorin Daniela Huwyler basiert. Zudem möchte sie zusammen mit Profis und Laien aus den Bereichen Tanz und Musik einen Sprech-Bewegungs-Gesangs-Chor bilden, um schliesslich zusammen die Gedichte mit anatomischen und wissenschaftlichen Tatsachen zu verschmelzen.
Die Toggenburgerin Rita Livia Heim verwendet ihren Werkbeitrag für eine vertiefte Recherchearbeit zum Thema Utopie und Dystopie. Nun, zu Zeiten der Coronakrise, erhält dieses Vorhaben eine andere beziehungsweise dringlichere Bedeutung. Es wird unter diesen Umständen spannend, dass sie, die in den letzten Jahren eine starke visuelle und musikalische Ausdrucksform gefunden hat, ihren Fokus nun auf inhaltliche Relevanz legt, Ideen zu möglichen Zukunftsvisionen entwickelt und diese in künftigen Kreationen mit ihren multidisziplinären Mitteln zu verschmelzen versucht.
Rom – eine Stadt mit tausend Möglichkeiten
Naturverbunden, verspielt, inkognito beschreibt der eine sein eigenes Tun, zugewandt, reduziert, alltagstauglich der andere sein Schaffen. Es sind Vater und Sohn Marbacher, Thomas und Sebastian. Thomas Marbacher stellt Objekte aus in der Natur gefundenem Material her, Sebastian gestaltet Möbel und Räume. Nun wollen sie gemeinsam eintauchen in eine ihnen unbekannte Stadt, absichtslos umherschweifen, jeder auf seinen Pfaden. Und sich nach dem Ausschweifen gegenseitig zeigen, welche Spuren sie gelegt haben, und miteinander reflektieren.
Anschliessend wird die Fotografin Tine Edel mit ihrem Vorhaben «Chiaroscuro» nach Rom reisen. Sie hat den Blick einer Besucherin, die Rom das erste Mal leibhaftig sieht, und sie wird auf ihren Spaziergängen alles genau wahrnehmen, hinsehen und verweilen. Für eine Künstlerin, deren Werkzeug die Kamera ist, heisst dies sozusagen mit weit geöffneten Augen zu fotografieren. Neben all dem Verweilen, Sehen und Recherchieren sollen die Eindrücke und Ideen umgesetzt werden. Dafür wird sie einen analogen Fotolaborplatz mieten und für den künstlerischen Austausch an Veranstaltungen im Fotozentrum Officine Fotografiche Roma teilnehmen.